Ziel und Zweck des Verfahrens:
Ermitteln von neuen Möglichkeiten zur Nutzung des vorhandenen Potenzials an bürgerschaftlichem Engagement sowie neue Formen der gemeinwohlorientierten Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in Entscheidungsabläufe in Politik und Verwaltung
Überblick über das Verfahren:
Die baden-württembergischen Landesregierung hatte im März 1997 die Zukunftskommission Gesellschaft 2000 eingesetzt, Sie hatte die Augabe, vor dem Hintergrund der Diskussion um soziale und gesellschaftliche Umbrüche in der Gesellschaft konkrete Handlungsempfehlungen zu entwickeln und Lösungswege aufzuzeigen, wie der Zusammenhalt der Gesellschaft gefördert werden kann und die Menschen auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet werden können. Ebenso sollte nach Wegen gesucht werden, welche die Rolle des Landes Baden-Württemberg als Impulsgeber gesellschaftspolitischer Fortschritte stützen und stärken.
Die Zukunftskommission setzte sich schwerpunktsmäßig mit folgenden Fragestellungen auseinander:
1. Wissen und Kultur als Faktoren gesellschaftlichen Zusammenhalts und Fortschritt
2. Die Lage junger Menschen und das Verhältnis der Generationen
3. Gesellschaftliches Engagement und Wege zur Mitverantwortung
Entsprechend diesen Aufgabenstellungen hatte sie drei gleichnamige Arbeitsgruppen gebildet. Die Arbeitsgruppe III mit dem Themenfeld „Gesellschaftliches Engagement und Wege zur Mitverantwortung“ beauftragte im Januar 1998 über das Staatsministerium Baden-Württemberg die Akademie für Technikfolgenabschätzung als interessenungebundene Stiftung des Landes Baden-Württemberg, sechs Bürgerforen zum Thema „Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement“ durchzuführen.
Potenzial an bürgerschaftlichem Engagement besser nutzen
In diesen Foren sollte auf der Basis lebensweltlicher Erfahrung ein Empfehlungskatalog erarbeitet werden, der aufzeigt, wie neue Möglichkeiten zur Nutzung des vorhandenen Potenzials an bürgerschaftlichem Engagement sowie neue Formen der gemeinwohlorientierten Einbeziehung von Bürgern in Entscheidungsabläufe in Politik und Verwaltung gefunden und realisiert werden können.
Die Bürgerforen tagten in den Kommunen Aalen, Esslingen, Kirchberg an der Jagst, Mannheim, Offenburg und Weil am Rhein. In diesen Städten waren zuvor jeweils 625 Personen zufällig aus den Einwohnermelderegistern ausgelost und eingeladen worden. 762 Eingeladene (20,3 Prozent) meldeten sich auf die Einladung zurück, 316 davon (8,4 Prozent) bekundeten Interesse an einer Teilnahme.
149 Forumsmitglieder
An den Bürgerforen hatten 149 im Zufallsverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger des Landes Baden-Württemberg teilgenommen. Sie hatten vier Tage miteinander, mit den Sachverständigen und mit den Prozessbegleitern der Akademie für Technikfolgenabschätzung des Landes Baden-Württemberg gearbeitet, d.h., sie haben sich informiert, diskutiert, Meinungen ausgetauscht, abgewogen, verworfen und geändert sowie um Beurteilungen gerungen.
Die Bürgerforen hatten übereinstimmend zentrale Handlungsfelder und Hemmnisse identifiziert. Sie empfahlen der Zukunftskommission, sich mit den hierauf aufbauenden Verbesserungsvorschlägen zur Stärkung von Ehrenamt und gesellschaftlichem Engagement vertieft auseinanderzusetzen und für ihre Realisierung einzutreten.
- Integration von Ausländern, Behinderten, Arbeitslosen etc.
- Kinder, Jugendliche, Alte, Familie
- Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe
- Umwelt- und Naturschutz
Als strukturelle Hemmnisse wurden festgestellt:
- Bürokratie (Regelungsdichte und Unübersichtlichkeit, mangelnde Transparenz, Mangel an Kooperationsbereitschaft, Verstrickung in Interessenkonflikte und Seilschaften)
- unklarer rechtlicher Rahmen (hier vor allem Unfallversicherung, Haftpflichtversicherung, soziale Absicherung)
- zu wenig aktive Informations- und Öffentlichkeitsarbeit seitens Politik, Behörden und Verbänden
Als personenbezogene Hemmnisse sahen die Forumsmitglieder
- Beanspruchung durch Familie und Beruf
- Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit
- diffuse Ängste (z.B. vor: Ärger mit Behörden, ausgenutzt zu werden, Fehler machen, Kritik, beruflichen Nachteilen)
- empfundener Informationsmangel
- mangelhafte organisatorische und finanzielle Unterstützung
- Scheu vor langfristigen Verpflichtungen
- unzureichende gesellschaftliche Anerkennung
Vorschläge zur Stärkung des Ehrenamts
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Bürgerforen haben folgende Vorschläge zur Unterstützung von Ehrenamt und gesellschaftlichem Engagement formuliert:
Anerkennung / Belohnung
Unter der grundsätzlichen Annahme, dass Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement auf keinen Fall gegen Entlohnung (Bezahlung) erzielt oder ausgeübt werden dürfen, bestand in allen Bürgerforen jedoch Konsens über die Notwendigkeit von Anerkennung des Engagements durch die Gesellschaft, Politik und Verwaltung.
Zertifizierung
Es bestand allgemeiner Konsens, dass Tätigkeiten im Bereich Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement bescheinigt bzw. zertifiziert werden sollten. Hierin wjurde ein Anreiz sowohl für den Beginn als auch für die Fortführung eines Engagements gesehen. Im beruflichen Umfeld kann eine Zertifizierung dem Erhalt des Arbeitsplatzes wie auch dem Aufstieg im Beruf dienen. Im privaten Bereich kann sie Selbstbestätigung bedeuten und damit zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls beitragen.
Soziale Sicherung
Alle Foren erblicken in einer obligatorischen und automatischen Unfall- und Haftpflichtversicherung für jeden ehrenamtlich Tätigen bereits bei Aufnahme eines Ehrenamtes oder gesellschaftlichen Engagements dringenden Handlungsbedarf. Darüber hinaus wurden in einzelnen Foren weitere Möglichkeiten der individuellen sozialen Absicherung diskutiert, wie z.B. Möglichkeiten der Anrechnung auf die Rentenanwartschaft analog zu sozialem Jahr, Wehr- oder Zivildienst.
Kostenerstattung
Bei aller grundsätzlichen Bereitschaft zum Ehrenamt ohne Bezahlung möchten die Bürger hierdurch aber nicht mit zusätzlichen Kosten belastet werden. Deshalb wünschen sie eine generelle Kostenerstattung (nicht Aufwandsentschädigung) für alle ihnen im Kontext des Engagements entstandenen Kosten gegen Vorlage eines Kostennachweises. Wer auf die Kostenerstattung verzichtet, sollte dies bei seiner Lohn-/Einkommensteuererklärung berücksichtigen können.
Bürgerbüro / Kontaktstelle
Gesellschaftliches Engagement wird gebremst durch gravierende Informationsdefizite. Deshalb soll als Informationsbasis ein für jedermann erreichbares, partei- und verbandsneutrales Kontaktbüro in der Gemeinde / im Stadtteil zur Vermittlung von Informationen und Tätigkeiten und zur Beratung für bürgerschaftliches Engagement geschaffen werden.
Weitergehende Bürgerbeteiligung
Eine verstärkte gemeinwohlorientierte Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in Entscheidungsabläufe von Politik und Verwaltung wird von allen Bürgerforen befürwortet. Grundlage hierfür müssen die Rahmenbedingungen der repräsentativen Demokratie sein. Die Notwendigkeit einer weitergehendern Bürgerbeteiligung wird durchweg begründet mit:
- einer Stärkung des demokratischen Gedankens
- einer besseren Integration von Bürgerinteressen
- der Stärkung von Eigenverantwortung und Eigeninitiative
- der Festigung von Vertrauen in Staat und Politik
- einer Förderung der politischen Willensbildung
Als Themen und politische Aufgabenfelder für eine weitergehende Bürgerbeteiligung wurden vor allem gesehen:
- Ausländerpolitik: z.B. Gewaltprävention
- Finanzen: z.B. Budgetplanung in der Gemeinde, Gebührenerhöhungen
- Stadtplanung: z.B. Gestaltung von Wohnvierteln, Bau von Kindergärten
- Umweltschutz: z.B. Standortbewertung von Abfalldeponien, Energieversorgung
- Verkehrsplanung: z.B. Bau von Ortsumgehungsstraßen, Radwegen, Autobahnen
Eine wirksamere Einbindung von Erfahrungs- und Alltagswissen der Bürger sowie von bürgerschaftlichen Aktivitäten und Projekten in die Gesellschaft könnte erreicht werden durch Verfahren wie z.B.:
- Anhörungen
- Bürgersprech- und fragestunden
- Stadtteilkonferenzen
- Bürger- und Volksentscheide
wie auch durch eine Ergänzung mit innovativen Formen der Bürgerbeteiligung, zum Beispiel:
- Runde Tische
- Zukunftswerkstätten
- Planungszellen
Unterstützung durch die öffentliche Hand / Verwaltung
Gesellschaftliches Engagement lebt zwar von der Motivation, Hilfs- und Handlungsbereitschaft einer Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern. Wirksamkeit kann hier aber nur entfaltet werden, wenn eine organisatorische und administrative Handlungsbasis gegeben ist.
Verbesserte Kooperation und Flexibilisierung
Initiativen und Projekte verschiedener staatlicher Stellen und Träger vermitteln häufig den Eindruck konkurrierender Aktivitäten. Eine wirksamere Koordination bürgerschaftlicher Aktivitäten und ihnen zugrunde liegender Programme könnte hier zur Vermeidung von Kompetenzwirrwar und Ämter- bzw. Verbandsegoismen beitragen. Eine Flexibilisierung der Strukturen in Institutionen und Verbänden könnte weitere Bereitschaft der Bürger zum gesellschaftlichen Engagement wecken. Dabei sollten effiziente Kooperationen auf Behörden- oder Verbandsebene Vorbildcharakter haben.
Bewusstsein für die gesellschaftlichen Grundwerte
Ehrenamtliches und gesellschaftliches Engagement basieren wesentlich auf Grundwerten wie Gerechtigkeit, (Mit-)Verantwortungsgefühl, Solidarität und Toleranz. Das Bewusstsein für diese Werte muß durch familiäre, schulische und außerschulische Bildung und Erziehung wieder mehr gestärkt werden. Hierbei ist die Bedeutung von Vorbildern wieder neu zu bedenken.
Die Ergebnisse der dreitägigen Bürgerforen im Mai wurden zunächst mit den in allen Bürgerforen gewählten Delegierten in einer Delegiertenkonferenz am 7. Juli 1998 beraten. Aufgabe der Delegierten war es, die von der Akademie zusammengestellten Empfehlungen an die Zukunftskommission daraufhin zu prüfen, ob sie den Tenor der in den einzelnen Bürgerforen erzielten Ergebnisse zutreffend wiedergeben und gegebenenfalls Änderungen an der Akademievorlage vorzunehmen. Die im Ergebnis der Delegiertenkonferenz erarbeitete Vorlage an die Arbeitsgruppe 3 der Zukunftskommission wurde dort am 29. Juli 1998 zusammen mit den Delegierten ausführlich beraten.
In der Beratung der Arbeitsgruppe 3 bildeten sich folgende Themenschwerpunkte heraus:
- Ehrenamtliche Tätigkeit und Arbeitswelt: Vor- und Nachteile einer Zertifizierung von freiwilligem gesellschaftlichen Engagement
- Hemmnisse für ehrenamtliches gesellschaftliches Engagement und Maßnahmen zur Förderung von Engagement
- Einrichtung von Bürgerbüros
- Möglichkeiten zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung bei politischen Entscheidungsprozessen
Im Ergebnis der Beratung wurden die Bürgerforen gebeten, in ihrer Septembersitzung auf diese Themenschwerpunkte einzugehen und den vorgelegten Empfehlungskatalog nach Möglichkeit durch Praxisbeispiele und Operationalisierungsmöglichkeiten zu unterlegen. Dabei sollten für das abschließende Bürgergutachten nicht nur konsensuale Ergebnisse der Foren, sondern auch abweichende Voten berücksichtigt werden.
Anschließend wurde das Bürgergutachten an die Zukunftskommission übergeben.
Mitglieder der Bürgerforen haben am Abschlusskongress der Zukunftskommission teilgenommen.
Verbindung zu anderen Beteiligungsprozessen:
keine Angabe
Besonderheiten des Verfahrens und sonstige Anmerkungen:
keine Angabe